Gerry 365 #166: 15.06. – Die dunkle Seite der Pride-Saison

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Wie ihr der Triggerwarnung entnehmen konntet, wird es heute mal ernst. Sehr ernst. Und es ist wichtig, dass wir darüber reden. Denn so bunt die Pride-Saison auch ist, geht das unter, was wirklich zählt. Alles ist voller bunter Farben, nackter Haut, (Sex)Parties. Und dabei werden unsere wichtigsten ‚Freunde‘ absolut vergessen.
Die Leute, die sich in einer dunklen Ecke verstecken und mit Gedanken spielen, die ein fatales ende nehmen könnten. Alle Feiern und doch bleiben diese Menschen oft allein. Aus Angst. Scham.

Je nach Land, Staat, Bundesland oder Stadt ist es als Trans*-Person oder anderslebender mal leichter und mal schwerer, zu dem zu stehen, was man ist. Und wenn noch Faktoren wie Mobbing hinzukommen, hilft aller Regenbogen der Welt nicht mehr. Denn man sieht ihn nicht mehr. Aber lasst mich eine kleine Geschichte erzählen.

Meine Geschichte

Ich war 14 oder 15. Mein Coming Out war ein Unfall. Ich habe einen Witz erzählt, den ich in der Schule aufgeschnappt habe.
„Was ist der Unterschied zwischen einen Penis und einem ICE?“ Ja der kommt flach.
„Hast du schonmal versucht, einen ICE durch Blasen zum Stehen zu kriegen?“
Der damalige Typ meiner Mutter hat mich gefragt, ob ich Schwul sei. Und ich, ohne nachzudenken, hab geantwortet … „Und wenns so wäre? Schlimm?“ Der Raum war totenstill und meine Erzeugerin bat ihn, den Raum zu verlassen. Er ging und es ging los. Das Übliche. Anti-Haltung. Und ich sollte meinen damaligen Freund verlassen, weil er nicht in ihr optimales Männerschema passte. Ach und ob man mit mir zum Psychiater gehen müsste. Ihr wisst schon. Krankheit und so.

Ich verkroch mich in meinem Zimmer. Fertig mit der Welt. Und es verbreitete sich wie ein Lauffeuer irgendwie. Es wusste jeder in meiner direkten Umgebung. Warum? Weil man nicht respektiert hat, dass ich noch nicht soweit war. Aber mit Respekt und „Familie“ fange ich lieber nicht an.
Ich fühlte mich allein. Während ich im Internet erlebt habe, wie alle offen mit ihrer Sexualität umgingen und ich das nicht konnte. Berlin mag eine offene Stadt sein. Aber nicht dort wo ich lebte. Im Gegenteil.
Diese Geschichte, das Mobbing in der Schule und andere fehlende Dinge in meinem Leben, haben mich fertig gemacht. Ich habe mir selbst das Lineal in den Arm gedrückt. Tat weh. Tat aber gut und hinterließ keine Narben. Praktisch. Aber es half nichts. Und irgendwann … irgendwann …

Ich warne noch einmal: Bitte lest nicht weiter, wenn euch Themen wie Suizid und Depression zu sehr mitnehmen.

Irgendwann stand ich vor einem Strommast im, so nannten wir es zumindest, Naturschutzgebiet in der Nähe. Es war ein passender Ort. Es wurde häufig erzählt, dass Leute dort verschwunden sind. Gab auch ein paar Sumpfbereiche, vor denen gewarnt wurde. Anyway.
In meinem Kopf sind alle bösen Worte meiner Familie, meiner Mitschüler, Leuten aus meiner Umgebung auf mich eingeprasselt und ich kletterte hinauf. Fest entschlossen es zu beenden. Also stand ich da. Schaute auf mein Handy, ob mich jemand vermissen würde. Keine Nachricht.

Ich stand da, schaute aber nur nach vorne. Denn es hat viel Überwindung gekostet, hochzuklettern. Höhe ist nicht mein bester Freund, müsst ihr wissen. Ich sah Bäume, Häuser und sonst nichts. Ich war wie gelähmt und stand bestimmt ne halbe Stunde da oben. Und dann dachte ich an meine Oma. Der einzige Mensch, der mir was bedeutete.
Was würde sie denken? Würde sie sich die Schuld geben? Würde sie … weinen? Ich brach mein Vorhaben ab. Denn ich hatte noch einen dünnen Faden, an den ich mich halten konnte.
Ja… so kletterte ich wieder hinab. Zitternd. Und irgendwo auch enttäuscht von mir selbst, es nicht getan zu haben. „Sogar dazu bist du zu feige“, hieß es innerlich. Damals zumindest.

Ich hatte oft die Gedanken meinem Leben ein Ende zu setzen. Werkzeuge dafür gibt es genug. In jedem Haushalt. Überall. Und viele, die solche Gedanken nie hatten, haben überhaupt keine Ahnung, wie viel Überwindung es kostet, genau das nicht zu tun. Nicht die Möglichkeit zu nutzen, sich ‚zu befreien‘. Es kostet viel Kraft.
Und so geht es zig tausend Menschen auf dieser Welt. Jeden Tag. Und jeden Tag verliert irgendjemand den Mut weiterzuleben. Die Kraft für die Überwindung reicht nicht aus. Und es ist vorbei.

Der Kampf in uns und mit uns

Und es geht nicht nur darum, es zu tun. Es geht auch darum, nur diese Gedanken zu haben. Und halt zu kämpfen. Weltweit kämpfen Menschen wie ich oder vielleicht auch du. Durchzustehen. Auf bessere Zeiten zu hoffen. Sie können ihr Leben nicht so leben, wie sie es sollten. Die Gründe für diese ganzen Gedanken sind so vielfältig wie unsere Community.
Familiäre fehlende Akzeptanz oder Liebe. Das Umfeld. Herkunft. Und so weiter. Aufgrund dessen und wegen noch vielem mehr, werden Menschen zu Bestien und das große Mobbing und die Schikane beginnt. Sei es gegen *sexuelle (* weil es ja nicht nur Homosexuelle betrifft), Trans-Personen und laut diverser Studien haben es gerade LGBTQIA-Personen schwer, die zusätzlich noch andere Merkmale aufweisen.
Wie eben schon erwähnt: Herkunft z. B. macht es ihnen schwerer.

Ich habe viele Menschen kennengelernt und auch viele mit diesen Gedanken. Wir sind nicht allein. Und gerade zur Pride-Saison sollten wir nicht nur auf unsere Rechte pochen, sondern auch denen gedenken die, aus welchen Gründen auch immer, nicht frei ihr Leben leben können oder die Kraft endgültig verloren haben. Und das, meine werten Leser, ist nicht nur ein Problem außerhalb Deutschlands. Das Problem ist auch hier präsent. In Deutschland. In deiner Stadt.

Es verstecken sich überall Menschen, die Angst haben sich zu outen. Egal, was sie für eine Sexualität sie haben. Oder was für Handicaps sie haben. Sie haben Angst. Vor der Familie. Vor Freunden. Vor den Menschen, denen sie täglich begegnen.
So ging es mir auch. Und daher muss ich auch hier meine Gedanken teilen.
Ich war als Jugendlicher so sehr von Angst erfüllt rauszugehen, dass ich beim Brote schmieren überlegt habe, das Messer zu zweckentfremden. Nein. Das ist kein Scherz.

Im Juni jeden Jahres strahlt alles bunt. Regenbogen. Überall dieser … absolut nervtötende Regenbogen. Schuld sind die Unternehmen. Dazu hab ich an anderer Stelle schon was geschrieben. Es wird auf Akzeptanz gemacht. Wir haben uns alle lieb. Und da möchte ich kotzen!
Auf CSDs werden wahre Konflikte ignoriert und so getan, als existieren sie gar nicht. Alle sind nett zueinander. Nicht weil sie es wollen. Sondern … weil sie sich dazu verpflichtet fühlen. Und nein, ich schließe mich dabei nicht aus. Ich war genauso. Und da kommen wir ….

Zur dunkelsten Seite des Pride-Wahns

Alle labern von Akzeptanz. Doch gerade innerhalb der LGBTQIA*-Szene herrscht eine riesige Intoleranz. Dazu erzähle ich euch gleich eine Geschichte. Aber es ist Tatsache und jeder der meint, es sei nicht so, sollte, wie auch beim Petplay, mal die rosarote Brille ablegen und den Tatsachen ins Auge sehen.
Nehmen wir doch mal die besonderen Wuffel als Paradebeispiel. Auch wenn es nicht alle betrifft, findet an der Front starke Diskriminierung statt. Oder wenn du Meinungen nicht teilst. Oder …

Auch als erwachsener kam mein Kopf mit Suizidgedanken. Zuhauf. Aufgrund schwerer Lebenssituationen oder auch aufgrund von Diskriminierung. Ich bin eine faule Sau. Sport ist nicht meins. Und ich esse gerne. So habe ich in meinen zwanzigern, gerade nach der Ausbildung zugelegt. Ich fühl mich wohl … jetzt. Das hat auch gedauert und bedürfte tollen Menschen, die mich so nahmen, wie ich bin.
Aber das war auch anders. Wenn man daten möchte und dann kommen die Leute mit »Du bist zu fett«. Oder wenn du doch mal irgendwo hingehst, die Leute auf deine Körpermitte schauen und angewidert schauen.

Hier und da, wenn ich mal selbst gekocht habe, oder abends im bett vorm Schlafengehen, habe ich überlegt das große Küchenmesser zu verwenden und mir nen paar Kilo herunterzuschneiden. Natürlich in dem Wissen, dass das anders enden würde.
Und es geht noch schlimmer. Hab die falsche Nase. Den falschen Schwanz oder Arsch. Und und und … Du wirst ausgeschlossen. Und das wird in dieser ›tollen‹ Zeit nicht wirklich propagiert.

Alles bunt. Mehr Rechte wollen wir. Doch was ist mit den Rechten, die jedem Menschen zustehen? Würde? Das Recht zu lieben, wie man will? Egal wo. Egal wann?

Worum gehts jetzt eigentlich?

Irgendwie um alles. Wir kämpfen um Rechte. Klar. Aber was ist mit denen, denen der Mut fehlt? Weil sie sich selbst verteufeln. Weil man ihnen das Gefühl gibt, falsch zu sein. Und in all dem Pride-Party-Wahn denken wir nicht an diese Menschen. Wir denken daran, dass es UNS besser geht. Aber … wer kämpft für sie? Wer ist für sie da?
Ja es gibt Beratungsstellen. Aber viele wissen nichts davon, weil ihr Dunstkreis nicht so weit reicht. Oder sie wissen gar nicht, dass sich unter ihren bekannten auch Menschen sind, wie sie selbst, weil diese sich ebenfalls bedeckt halten. Oder sie werden zu Konversionstherapien gezwungen. Und wir könnten dagegen kämpfen:

Kämpft gegen diese Art der Therapien. Sie sind in Deutschland an Erwachsenen erlaubt. Bei minderjährigen verboten, aber die Strafen sind lächerlich, dafür, dass man etwas in einem Menschen zerbricht.
Viele machen diese Therapien aus Angst. Für die Familie. Beruf. Umfeld.

Die Angst reicht tiefer, als all eure Regenbögen Strahlen können. Und manchmal ist sie so tief, dass sie alles Licht verschluckt. Und dann hilft oft nur noch eines … und das macht am Ende viele Menschen traurig. Auch mich. Jedes Mal wenn ich lese, dass *sexuelle Selbstmord begehen oder mit dem Tode bestraft werden.
Hört endlich auf zu feiern und marschiert. Hört endlich auf zu den neuesten Popsongs auf CSDs zu gröhlen und schreit. Hört auf (halb)nackt durch die Gegend zu rennen und kämpft! Wofür?

Das Menschen, überall auf der Welt sich nicht mehr verstecken müssen. Nicht mehr darüber nachdenken zu müssen, ob sie sich umbringen wollen, oder dem Leben noch einen Tag geben. Nicht mehr hingerichtet werden, weil sie ihre Liebe und Sexualität leben wollen. Das ist der Grundgedanke des Pride-Month. Mehr Rechte? Okay. Aber es geht um Akzeptanz. Und nicht nur die Akzeptanz anderer. Sondern auch die Akzeptanz für sich selbst. Und auch dafür, dass wir aufhören, uns wegen Äußerlichkeiten angewidert anzuschauen.
Ich stand auf einem Strommast. Habe mit Messern gespielt. Ich habe lange gebraucht mich selbst so zu akzeptieren, wie ich bin. Und auch jetzt hab ich alle paar Monate Flashbacks. Die Gedanken verschwinden nie wieder, wenn du sie einmal so hattest, wie viele von uns. Sie fordern dich immer wieder heraus, es zu beenden. Doch der Kampf wird leichter. Wann? Wenn du endlich so lebst, wie du leben möchtest. Leb! Kämpf! Und gib nicht auf.

Und wenn du kurz vorm Aufgeben bist, such dir Hilfe. Es gibt in Deutschland viele Hilfsmöglichkeiten.

https://www.telefonseelsorge.de/

0800.1110111
0800.1110222
Kostenfrei aus allen Netzen

Unter https://www.patiententelefon.de/sterben/suizid-selbstmord-selbsttoetung könnt ihr eine Liste finden, mit aktuellen Services bei Suizidgedanken und Ähnliches. Auch sind dort Hotlines zu finden für Kinder und Jugendliche. Nutzt sie. Sie retten Leben. Und jeder will gerettet werden, auch wenn er es für den Moment leugnen würde. Ich weiß, wovon ich rede.

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1 Kommentar zu „Gerry 365 #166: 15.06. – Die dunkle Seite der Pride-Saison“

  1. harter Tobac…. viel Text, aber was soll man dazu sagen

    Pride…. ja die meisten sehen darin einfach nur „Party Party Party….“ dass es um was ernstes geht und es eben nicht nur um Party geht ignorieren die meisten, die wollen einfach nur Feiern. Leider muss ich aber sagen, sind teilweise die Themen, welche die Veranstalter eines CSD sich auf die Fahne schreiben auch nicht immer besser…
    Aber letztens auch erst wieder gehört: ohne Wagen mach ich da nicht mit, da kommt keine Stimmung auf… Es soll auch keine Partystimmung aufkommen, sondern für die Rechte gekämpft werden… dogger4Facepalm

    zur Intoleranz: komisch ist, dass grade die Leute, welche auf Toleranz pochen meistens selbst sehr intolerant anderen gegenüber sind. Man erlebt es immer wieder… Ähnlich wie bei der Genderdebatte… Ich bekomme da immer das Gefühl, dass die Leute nicht das „Wir“ wollen, sondern es Hauptsächlich um Sie selbst dreht weil Sie meinen etwas besseres zu sein. Dabei sollten doch alle einfach Gleich sein… dogger4Shrug

    Suizid… es gibt ja immer verschiedene Arten: einerseits die Leute, die einfach nur die Aufmerksamkeit wollen, aber es nie machen würden (oder nur ganz selten) sozusagen die Lauten und dann die Stillen, welche das alles innerlich mit sich selber ausmachen und eigentlich Hilfe benötigen, aber entweder sich gar nicht zu trauen zu fragen oder eben auch nicht wissen, wo es sowas gibt.
    Ich finde es Gut, dass du immer wieder auf diverse Möglichkeiten hinweist und auch in deinem Blog zu verschiedenen Gelegenheiten immer wieder das Thema aufgegriffen wird. Wenn es nur einer liest und dadurch die Hilfe bekommt die er braucht, hat es sich gelohnt. Natürlich ist es immer schwer, den ersten Schritt zu machen um z.B. psychologische Betreuung in Anspruch zu nehmen, aber das ganze ist auch mit vielem Negativen behaftet – man hört Kommentare, wie z.B.: die Sperren mich in die Klappse, die wollen mich umpolen usw. – Eventuell ist den Leuten einfach auch nicht klar, dass Sie nicht beim erst besten bleiben müssen, dass ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt/Patient herrschen muss und man sich auch einfach einen anderen Suchen kann, meistens gibt es dafür ja „Kennenlernsitzungen“

    Deine Geschichte ist erschreckend und traurig und es ist schön, dass du einen Weg für dich gefunden hast und du nicht den Sprung gemacht dogger4Luv dogger4Hug

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